Donnerstag, 29. September 2022 | 20:00 Uhr

Fabian Reicher & Anja Melzer "Die Wütenden"

Veranstaltungsort: kultur:treff im Haus der Musik

"Ich weiß, dass es falsch ist, aber ich muss immer noch an den Dschihad denken".
Warum radikalisieren sich Jugendliche, die in Österreich, Deutschland oder Frankreich aufwachsen? (Klappentext) Der in St. Johann aufgewachsene Wiener Streetworker Fabian Reicher gewährt in seinem Buch Einblicke in das Leben Jugendlicher, die unter dem Einfluss des Islamischen Staates stehen. Was wirkt so anziehend auf die jungen Menschen?

Anja Melzer ist Journalistin und Koautorin des Buches.

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Fabian Reicher

Fabian Reicher wurde 1987 in St. Johann geboren und ist seit 2011 diplomierter Sozialarbeiter. Er hat an der FH Campus Wien studiert und war sechs Jahre als Streetworker in Wien bei der mobilen Jugendarbeit „Back Bone 20“, im 20. Wiener Gemeindebezirk tätig. 2017 wechselte er zur „Beratungsstelle Extremismus“ im Bereich der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit. Dort war er am Pilotprojekt „Ausstiegsprogramm aus dem Jihadismus“ beteiligt. Der Sozialarbeiter ist Mitbegründer mehrerer Online-Streetwork Initiativen, hält Vorträge auf Hochschulen und gibt Workshops und Vorträge zu den Themen Extremismus- und Radikalisierungsprävention. Am 21. Februar 2022 erschien Fabian Reichers Buch: „Die Wütenden – Warum wir im Umgang mit dschihadistischem Terror radikal umdenken müssen“, verlegt im Westend Verlag, welches in Zusammenarbeit mit Anja Melzer entstanden ist.

 

Anja Melzer

Anja Melzer wurde 1989 geboren und arbeitet bei Arbeit&Wirtschaft (Magazin). Sie studierte Kriminologie, Kunstgeschichte und Publizistik. Melzer wurde 2017 zu den „Besten 30 unter 30“ gezählt und 2018 mit der „Story des Jahres“ der österreichischen Journalismustage ausgezeichnet. Ihre Arbeit steht in der Tradition der sogenannten Wiener Sozialreportage, einem „Journalismus von unten“. Melzer arbeitete als Journalistin für österreichische und deutsche Tages- und Wochenzeitungen sowie als Gerichtsreporterin.

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Unten lesen Sie die Rezension des gebürtigen St. Johanners Dominik Gruber, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei einem Sozialverein:

"Pädagogik der Wütenden" - mehr als ein pädagogisches Konzept

Um dschihadistischen Terror in Zukunft zu verhindern, müssen wir unseren Blick auf mehrere Schauplätze richten. Wir dürfen nicht nur die Organisationen, wie zum Beispiel den sogenannten „Islamischen Staat“, zusammen mit seinen menschenverachtenden Ideologien und seinen Verführungs- und Propagandatechniken, oder die gegenwärtig aktiven neosalafistischen Bewegungen, in den Fokus nehmen. Darüber hinaus müssen wir uns auch die Frage stellen, warum dschihadistische Weltanschauungen auch bei uns in Europa einen so fruchtbaren Nährboden vorfinden. Terrorismusprävention ist also ein Kampf auf mehreren Ebenen, der von militärischen, humanitären und polizeilichen Einsätzen, über politische Entscheidungen auf europäischer oder nationaler Ebene, bis hin zu lokalen Initiativen reicht. Vor allem von letzteren – wenngleich nicht nur – handelt das Buch „Die Wütenden“ von Fabian Reicher und Anja Melzer, das sich der Prävention von Terror aus der Perspektive der Sozialen Arbeit widmet und dabei einige, sehr aufschlussreiche Antworten auf zentrale praktische sowie gesellschaftspolitische Fragen im Bereich der Extremismus- und Terrorismusprävention liefert.

Es ist der Blick der Sozialen Arbeit, mit all seinen Bemühungen, die Lebenswelt und Bedürfnisse von – in diesem Fall – Jugendlichen und jungen Erwachsenen nachzuzeichnen, die dem*der Leser*in dieses Buches ermöglicht, die Innenwelt von jungen Menschen, die Gefahr laufen dem Dschihadismus nachzueifern, besser nachvollziehen zu können. So wird im Buch etwa die Geschichte von Dzamal erzählt, der sich im Zuge vieler kleiner Schritte immer weiter radikalisiert. Als Kind einer tschetschenischen Einwandererfamilie ist er den familiären Erwartungen sowie den vielen gesellschaftlichen Barrieren, wie den zahlreichen Diskriminierungserfahrungen, nicht gewachsen. Er wird durch Abwertungen gekränkt, zettelt Schlägereien an, begeht kleinere kriminelle Delikte und verliert seine Lehrstelle. Für Jugendliche in solchen Situationen hat der Dschihadismus ein Angebot, das über ein einfaches Weltbild, ein „wir“ – die Muslim*innen – gegen „sie“ – die Europäer*innen, die USA, die westlichen „Unterdrücker“ – hinausgeht. Der Dschihadismus bietet jungen Männern die Chance erfolgreiche Krieger zu werden, die für das „Wahre“ kämpfen. Diese können sich dadurch als „richtige“ Männer fühlen und damit ihrem Idealbild männlicher Stärke entsprechen. Gleichzeitig können alle, die aus Dzamals Sicht nur Böses für ihn wollten, mit einem Schlag als „Kufr“ – also als Ungläubige – abgewertet werden. Unterstützt werden diese Mechanismen durch die gut geölte Propaganda-Maschinerie von den Rackets des IS, aber auch von weiten Teilen der hiesigen Medien, die diese Bilder bereitwillig übernehmen und damit verbreiten. Letztendlich waren es alternative Held*innen, die sich für das Gerechte einsetzten ohne selbst Ungerechtigkeit zu säen, die Dzamal eine andere Orientierung boten und ihn vom Dschihadismus abrücken ließen.

Auch wenn sich Dzamals Fall geradezu idealtypisch darstellt, darf nicht vergessen werden, dass jeder Fall von dschihadistischer Radikalisierung ein individueller ist, dem auch mit individuell angepassten Strategien begegnet werden muss. Auch dem gängigen Fehler, Dzamal und andere als bloße „Opfer“ zu stilisieren, wirkt das Buch gekonnt entgegen. Jede*r Einzelne trägt Verantwortung und hat einen Handlungsspielraum, und sei es nur dieser, bestimmte Dinge, wie der Griff zur Gewalt, nicht zu machen. Es ist diese „Wendung aufs Subjekt“ – wie es Adorno einst ausdrückte –, auf die wir in der Zuweisung von Täter*innen- und Opferrollen häufig vergessen. Damit dieses Moment der Verantwortung überhaupt handlungsleitend werden kann, muss diesen jungen Menschen – egal aus welch prekären Umständen sie entstammen – zugestanden werden. Ein Predigen und Moralisieren von oben herab ist in aller Regel konterproduktiv. Dies verdeutlicht etwa die im Buch geschilderte Geschichte von Outis. Seine Faszination für den IS wurde weniger durch das kriegerische Element an sich entfacht, sondern vielmehr durch die vermeintlich moralische Kompromisslosigkeit, die der IS in seinen Videos inszeniert und sich unter anderem in homophoben Haltungen äußert. Für Outis ein perfektes Angebot, gegen die Vorstellungen und Erwartungen seiner Eltern und der Gesellschaft zu rebellieren. Die Kunst liegt darin, nicht einfach auf rationalem Wege Argumente und Haltungen zu entkräften, sondern Provokationen in gewisser Weise zu nutzen, um selbstbestimmte Reflexion zu ermöglichen, Weltbilder zu hinterfragen, im richtigen Moment alternative Narrative oder auch stabilisierende Identitäten anzubieten und diese auch praktisch einzuüben.

Trotz der sehr ausführlichen Schilderung und Analyse der einzelnen Jugendlichen, ihrer Probleme und Radikalisierungsschritte, verweist das Buch auch immer wieder auf die gesellschaftlichen und sozialen Ursachen von Extremismen jeglicher Art und wendet dadurch auch den Blick auf uns selbst und unsere Gesellschaft. Denn unterwürfiges und damit unreflektiertes Verhalten wird uns tagtäglich vorgelebt und eingebläut. In Schulen – um nur ein Beispiel zu nennen – wird zwar viel von Demokratie gesprochen, sie selbst sind jedoch zumeist der Inbegriff autoritär strukturierter Räume, in der Mündigkeit und Verantwortung nur selten genügend Platz eingeräumt wird. Das heißt, der fruchtbare Boden für Extremismus ist nicht nur in sogenannten „Brennpunktschulen“ vorzufinden. Vielmehr sitzen viele seiner Elemente, wie Autoritarismus, Konkurrenzdenken sowie eine „Kultur des Wegschauens“, in fast allen gesellschaftlichen Institutionen fest im Sattel – wenngleich in abgeschwächter Form. Eine Demokratisierung und in weiten Teilen radikale Reformierung öffentlicher und vor allem pädagogischer Einrichtungen wäre daher dringend notwendig. Wie das Buch „Die Wütenden“ eindrücklich verdeutlicht, kann die Soziale Arbeit, mit samt ihrem kompromisslosen Plädoyer für tatsächlich gelebte Demokratie und Menschenrechte, durchaus als Vorbild herangezogen werden. Es bedarf einer breiteren Kultur der demokratischen Aushandlung, in der – wie auch in der Schule oft der Fall – nicht der Stärkere oder der Klügere gewinnt, sondern in der Kompromisse und damit auch Erfahrungen der Selbstwirksamkeit möglich sind und möglich gemacht werden. Extremismusprävention darf daher – und dies deutet das Buch an mehreren Stellen an – nicht nur das Bestehende, etwa den gegenwärtigen Rechtsstaat und seine Gesetze, als die Ultima Ratio verteidigen, sondern seine Transformation befördern. Als Fluchtpunkt kann hier eine gemeinsam entwickelte Utopie stehen, eine „Gesellschaft für alle“.

Das Kernstück dieses Buchs bildet das in Anlehnung an Paulo Freire entwickelte Konzept einer „Pädagogik der Wütenden“. Der zentrale Wert dieser Idee liegt – wenig überraschend – in den zahlreichen pädagogischen Aspekten, die den Umgang mit jungen Menschen, die Gefahr laufen, in extremistische Szenen abzurutschen. Es sind die vielen Erfahrungen, die aus den Biographien der jungen Menschen sprechen, die akribisch, aber dennoch locker und eingängig beschriebene pädagogischen Haltungen und Interventionen, gepaart mit Ausflügen in die Lehren des Islams sowie in die Geschichte globaler Konflikte, wie jenen in Afghanistan, die dieses Buch so lesenswert machen. Jedoch erschöpft sich die Idee einer „Pädagogik der Wütenden“ nicht in den darin beschriebenen pädagogischen Aspekten. In seinem Kern erschließt sich in diesem Konzept auch eine andere Form des politischen Denkens und Handelns. Es kann nicht auf zu Tode getretene Floskeln wie „Mehr Geld für Prävention!“ oder „Mehr Integration!“ reduziert werden. Diese Idee bleibt auch nicht im alten Dualismus stecken, etwa in jenem, der vorgibt, sich zwischen der Idee eines (westlichen) Universalismus und eines multikulturellen oder postmodernen Pluralismus entscheiden zu müssen. Vielmehr zeigt diese Form der Pädagogik einen Weg auf, wie durch gemeinsame „intersubjektive Räume“ neue Ideen, etwa für ein anderes Zusammenleben, entstehen können, ohne auf die Werte der Aufklärung – Freiheit, Gleichheit, Solidarität – verzichten zu müssen. Die „Pädagogik der Wütenden“ ist nicht nur ein sozialarbeiterischer Ansatz, sondern eine Idee, die es wagt, das Bestehende zu transformieren.

 

Eintritt

Frei

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Fabian Reicher & Anja Melzer "Die Wütenden"
29.09.2022 20:00

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Veranstaltungsort

kultur:treff im Haus der Musik